Herausforderungen für Vor-Ort-Apotheken 2020: Versandhandel, Preisbindung, digitales Rezept

Die Geschäftsmodelle und Erfolge der Marktführer in der globalen Internetökonomie sind die Wegmarken für die Digitalstrategie der Bundesregierung und die digitale Agenda der EU-Kommission, die die Rahmenbedingungen für europäische Digital-Champions schaffen sollen. Vor diesem Hintergrund habe ich heute die Entwicklung des deutschen Apothekenrechts und den Einfluss des europäischen Unionsrechts von der Freigabe des Versandhandels durch das GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 bis zum Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz-Entwurf von 2019 nachgezeichnet und die bevorstehenden Herausforderungen aus juristischer Sicht eingeschätzt.

Im Mittelpunkt standen dabei naturgemäß die seit der Beendigung der Preisbindung für außerdeutsche Versandapotheken bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel an Patienten in Deutschland durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19.10.2016 diskutierten Alternativpläne zur wiederherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für die öffentlichen Apotheken in Deutschland. Im Unterschied zur aktuellen Diskussion – aber in Übereinstimmung mit der offiziellen Stellungsnahme der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände – halte ich weder Plan A (Rückkehr zum Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, zuletzt von Bundesrat gefordert) noch Plan B (Ersatz der bisherigen arzneimittelrechtlichen Preisbindung durch eine sozialrechtliche Preisbindung, 2019 von der Bundesregierung im VSAOG vorgeschlagen) für zielführend. Die von Bundesregierung für ihre auf die GKV-Versicherten beschränkte Preisbindung ins Feld geführten Argumente sind identisch mit denen, die für die Geltung der bestehenden Preisbindung ins Feld geführt werden können, und werden mit den gleichen Argumenten bekämpft werden, wie jene. Das wurde vom Verband der europäischen Versandapotheken bereits in der Anhörung zu dem Referentenentwurf angekündigt. Das Hauptargument des EuGH-Urteils, der Zusammenhang zwischen Preisbindung und Sicherstellung der Flächendeckung, sei zwar in allgemeiner Form behauptet, aber nicht substantiiert nachgewiesen worden, wird durch den Gesetzentwurf nicht überzeugend angegangen. Der formale Verweis auf das deutsche Sachleistungsprinzip führt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nicht zu einer Bereichsausnahme von den Binnenmarktregeln. Ob das vom BMG im Oktober 2019 angekündigte und inzwischen in Auftrag gegebene Gutachten diesen Nachweis führen kann und will, bleibt abzuwarten.

Es bleibt unverständlich, warum die Bundesregierung den vom Bundesgerichtshof in zwei Urteilen aufgezeigten Weg und in zwei anhängigen Verfahren vor den Oberlandesgerichten Köln und München möglichen Weg, die unzureichende Sachverhaltsaufklärung, auf der das EuGH-Urteil beruht, durch einen umfassenden Sachvortrag nachzuholen, nicht durch die geforderte Abgabe einer amtlichen Auskunft unterstützt. Ebenso wenig nachvollziehbar ist es, dass der Deutsche Bundestag, der noch am 22.03.2018 einstimmig eine Subsidiaritätsrüge an die Europäische Union richtete, weil diese mit einer Verordnung über die Bewertung von Gesundheitstechnologien mittelbar in die Vorbereitung „nationaler gesundheitspolitischer Entscheidungen z. B. zur Preisbildung und Erstattung“ eingreife, trotz des unmittelbaren Eingriffs in das deutsche Preis- und Erstattungsystems durch den EuGH über 3 1/2 Jahre hinweg keinen Gebrauch von der für sich reklamierten Gesetzgebungszuständigkeit gemacht hat. Inzwischen hat das Europäische Parlament in erster Lesung Artikel 1 Absatz 2 der genannten EU-Verordnung um folgenden Satz ergänzt: „Darüber hinaus bleibt die ausschließliche nationale Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf nationale Entscheidungen über Preisbildung und Erstattung von dieser Verordnung unberührt.“ Welchen Sinn vor diesem Hintergrund das Antichambrieren des Ministeriums bei der Europäischen Kommission hat, sei dahingestellt. Dass Inaussichtstellungen der Kommission, selbst wenn sie irgendwann, womöglich noch mit einschränkenden Bedingungen, erreicht werden sollten, wegen der direkten Wirkung der Grundfreiheiten und dem Klagerecht der Unternehmen und der Mitgliedstaaten keinen Schutz vor einem neuen EuGH-Verfahren sind, sollte so kurz nach dem Maut-Urteil des EuGH und seiner Vorgeschichte eigentlich zum allgemeinen europarechtlichen Kenntnisstand in den Ministerien gehören.

Ende letzter Woche ist der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit eines Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutzgesetz – PDSG) bekannt geworden. Positiv ist, dass darin die im VOASG-Entwurf bereits enthaltene Erstreckung der Zuweisungsverbote des § 11 Absatz 1 Apothekengesetz und § 31 Absatz 1 SGB V auf elektronische Verordnungen und Apotheken anderer Mitgliedstaaten enthalten ist und damit vom ungewissen Schicksal des Apotheken-Stärkungsgesetzes losgelöst wurde. Negativ ist, dass die Einbeziehung Dritter in den Geltungsbereich der Rezeptzuweisungsverbote („Makelverbot“) trotz der Forderungen der Apothekerschaft nicht übernommen wurde. Hier kommt es auf sehr genaue Formulierungen an, um auch die Plattform- und Sharing-Ökonomie mit ihrer Mischung aus kommerziellen Geschäftsmodellen und organisierten Angeboten für den privaten Nebenerwerb einzubeziehen. Auch mit diesen Schutzmaßnahmen wird das elektronische Rezept verbunden mit neuen Möglichkeiten zur Beratung und Abgabe ohne Präsenz in der Apotheke jedoch zu neuen Formen des Wettbewerbs führen, auf die sich die einzelne Apotheke aber – im Unterschied zur Boni-Gewährung durch ausländische Versandapotheken – durchaus betriebswirtschaftlich vorbereiten kann und sollte, wie mein Mit-Referent Dr. Diener von der Treuhand Hannover heute instruktiv darlegte. Ob die E-Rezepte am Ende wirklich in der Vor-Ort-Apotheke landen werden, wird jedoch maßgeblich davon abhängen, inwieweit es dem Patientendaten-Schutzgesetz mit seiner Aufgabenzuweisung an die Gesellschaft für Telematik „als einer anerkannten neutralen Stelle“ gelingen wird, eine organisierte Zuweisung von Rezepten durch einzelne Apps an die großen Versandapotheken zu verhindern.